Modul 1: Einleitung zur Radikalisierung

„Radikalisierung bezieht sich auf einen kurz- oder langfristigen Prozess, in dem Personen sich extremistischen Ansichten anschließen oder ihr Handeln auf der Grundlage extremistischer Ideologien legitimieren.“

(Dänische Regierung, 2016: „Prävention und Bekämpfung von Extremismus und Radikalisierung. Nationaler Aktionsplan“)

Das Konzept der Radikalisierung wurde entwickelt, um zu verstehen, warum junge Männer, die in westlichen demokratischen Ländern geboren und aufgewachsen sind, terroristische Aktionen in Europa durchführen als so genannte einheimische Terroristen – und auch, was junge Menschen dazu getrieben hat nach Syrien und in den Irak zu gehen, um dort als so genannte ausländische Kämpfer für den Dschihad zu kämpfen.

Was eine klare Konzeptualisierung anbelangt, so gibt es unter Forscher*innen und politischen Entscheidungsträger*innen keine gemeinsam vereinbarte Definition von Radikalisierung und Extremismus. Es handelt sich also nicht nur um reale oder online-basierte Radikalisierter/Groomer, die vulnerable Personen zu einem Prozess verleiten, der zu gewalttätigem Extremismus führt. Einigkeit besteht jedoch darüber, dass niemand über Nacht radikalisiert wird und niemand durch einen einzigen Auslöser bewegt wird. Im Gegenteil, Radikalisierung wird als ein Prozess wahrgenommen, in dem Individuen allmählich Überzeugungen und Einstellungen entwickeln, die sich radikal vom gesellschaftlichen Mainstream entfernen. Manche Individuen überschreiten die Grenze zwischen radikalem Denken und gewalttätigem Handeln. Aber radikales Denken führt nicht unbedingt zu gewalttätigem Verhalten. Folglich unterscheiden einige Experten zwischen kognitiver und verhaltensbedingter Radikalisierung.

Darüber hinaus sind Radikalisierung und Extremismus relative und kontextabhängige Begriffe. Das bedeutet, dass ihre Bedeutung davon abhängt, was in einer bestimmten Gesellschaft als „Mainstream“, „normal“ und „legal“ angesehen wird: „Der Terrorist des einen ist der Freiheitskämpfer des anderen“.

DER RADIKALISIERUNGSPROZESS

Part 1 Module 1 Randy Borum, 2011

Quelle: Randy Borum, 2011

Während der letzten 20 Jahre haben Forscher*innen und Fachleute aus der Praxis eine Vielzahl von Modellen entwickelt, um den Prozess der Radikalisierung zu erklären. Zu den bekanntesten Modellen gehören die von Randy Borum und Fathali M. Moghaddam (Borum, R., 2011): „Radikalisierung zum gewalttätigen Extremismus II“. Zeitschrift für strategische Sicherheit Nr. 4).

Randy Borum zielt darauf ab, die gemeinsamen Faktoren in Radikalisierungsprozessen in einem Vier-Stufen-Modell zu vereinen.

Das Modell veranschaulicht, wie sich die Erfahrung von Missständen, Diskriminierungen und Verwundbarkeiten allmählich in eine durch externe Faktoren verursachte Erfahrung verwandeln, sei es durch Personen, Gruppen oder die Gesellschaft im Allgemeinen. Schritt für Schritt richten die Jugendlichen ihre Aggressionen auf einen Feind: „Target-Zuschreibung: Es ist deine Schuld“. Die letzte Phase beinhaltet Hass und Dämonisierung und/oder Entmenschlichung der verantwortlichen Partei, und in dieser Phase können einige Personen gewalttätige Handlungen begehen.

Ebenso, Fathali M. Moghaddams Modell wird die „Treppe zum Terrorismus“ genannt.

Moghaddam, Fathali M. (2005): “Die Treppe zum Terrorismus. Eine psychologische Erklärung“. In American Psychologist.

Im Treppenmodell beginnt der Prozess der Radikalisierung mit Erfahrungen von Missständen und Ungerechtigkeiten. So kann das Erdgeschoss des Modells viele Individuen umfassen. Viele junge Menschen würden der Erfahrung von Ungerechtigkeit zustimmen, und sie mögen oft mit denen sympathisieren und sogar diejenigen unterstützen, die sich dafür entscheiden, zu handeln und etwas dagegen zu tun.

Wenige Personen begeben sich in die höheren Stockwerke des Treppenmodells. Nur wenige Personen steigen jedoch in die letzte Etage auf, wo sie „Hemmungsmechanismen umgehen“ und Gewalttaten begehen. 

Andere Modelle beinhalten weitere Zwischenstufen. Trotz der Variationen werfen diese Art von Vorgehensmodellen jedoch in der Regel ähnliche, wichtige Fragen auf, wie z.B:

  • Welche Faktoren lösen den Radikalisierungsprozess aus?
  • Wann und warum tätigen manche Menschen den letzten Schritt in den gewalttätigen Extremismus?
  • Welche Faktoren und Mechanismen sind für Individuen ausschlaggebend, um den Prozess zu stoppen?
  • Wann und warum kommen manche Menschen von einer Phase in die nächste?
  • Ist es möglich den Prozess zu unterbrechen und sich vielleicht später wieder auf den gleichen oder einen anderen Schritt zu begeben?
  • Warum werden Personen mit denselben Charaktereigenschaften nicht alle radikal?

GRÜNDE DER RADIKALISIERUNG

Die allgemeine Position unter Forscher*innen und Fachleuten in der Praxis ist heute, dass es nicht eine einzige Ursache für die Radikalisierung gibt, sondern es eine komplexe Mischung von Kontextfaktoren auf verschiedenen Ebenen ist:

„Radikalisierung ist ein kontextgebundenes Phänomen par excellence. Globale, soziologische und politische Triebkräfte sind ebenso entscheidend wie ideologische und psychologische“.

 

Die Europäische Kommission, Expertengruppe für gewalttätige Radikalisierung (2008): „Radikalisierungsprozesse. Führen zu Terrorakten“.

Es gibt kein einzelnes Modell, das alle Faktoren und Mechanismen umfassen kann. Die Wissenschaft hat eine lange Liste von Faktoren ausgemacht, die zu einer Radikalisierung führen. Magnus Ranstorp (Die Ursachen des gewalttätigen Extremismus“ – RAN Ausgabe 04/01) hat zum Beispiel folgende Faktoren hervorgehoben:

Individuelle Faktoren

Gefühle der Entfremdung der Gesellschaft, Erniedrigung und Opferrolle, Verschwörungstheorien.

Soziale Faktoren

Ausgrenzung und Diskriminierung, isolierte Gemeinschaften, Arbeitslosigkeit, schlechtes Bildungsniveau, Kontakt mit Gleichaltrigen, die radikalen Netzwerken angehören.

Politische Faktoren:

„Westliche Länder befinden sich im Krieg mit dem Islam“, Islamophobie.

Ideologische/ religiöse Faktoren

Gewalttätige Interpretation des Islam, die Ansicht, dass die westliche Gesellschaft unmoralisch ist.

Kultur und Identitätskrisen

Mangelndes Zugehörigkeitsgefühl, Rebellion gegen Werte der Mainstream-Gesellschaft und der Eltern.

Trauma und andere Auslösemechanismen

PTBS, verstorbene Familienmitglieder.

In anderen Interpretationen (Mhtconsult 2010 und 2012) haben die Auslösefaktoren ihren Ursprung in konkreten und äußeren Anzeichen wie z.B.:

  • Image-basierte Anzeichen der Veränderung: wenn junge Menschen ihr Erscheinungsbild ändern, z.B. in der Art und Weise, wie sie sich kleiden, wie sie politisch-weltanschauliche oder religiöse Symbole verwenden usw.Einstellungsbezogene Zeichen des Wandels: wo junge Menschen ihre Ansichten, Sympathien und Wertvorstellungen ändern.
  • Relationale Zeichen des Wandels: wo junge Menschen ihren bestehenden Bekanntenkreis verändern und verlassen und sich mit neuen sozialen, politischen oder religiösen Gruppen verbinden.
  • Verhaltensweisen, die sich ändern: in denen junge Menschen ihre Verhaltensweisen auf sichtbare Weise ändern.

Auch wenn es keinen vollständigen Konsens darüber gibt, was Prävention ist, sind viele der Risikofaktoren bekannt. Dieses Wissen wird auf der Basis von Arbeitsdefinitionen in konkrete Vorsorgemaßnahmen und Interventionen operationalisiert.

Die Notwendigkeit, wirksame Strategien zur Bekämpfung der Radikalisierung zu finden, indem lokale Regierungen, Erzieher, Sozial- und Jugendarbeiter und die Zivilgesellschaft mobilisiert und befähigt werden, wurde stark betont. Ziel ist es, bei nicht radikalisierten Personen ein Bewusstsein und eine Widerstandsfähigkeit gegen die Anziehungskraft des gewalttätigen Extremismus zu schaffen.

Generell werden die präventiven Maßnahmen im sogenannten Präventionsdreieck in 3 Typen unterteilt (Hemmingsen, A., 2015):

Part 1 Module 1 Hemmingsen, A., 2015

Die allgemeine Ebene der Prävention wird auch als Primär- oder Allgemeinprävention bezeichnet. Auf dieser Ebene sind alle Kinder und Jugendlichen sowie – indirekt – die Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen in der lokalen Gemeinschaft arbeiten, die Zielgruppe. Der Schwerpunkt liegt auf der Bewusstseins- und Wissensbildung und der Reduzierung potentieller Risikofaktoren durch die Konzentration auf persönliche positive Ressourcen. Das übergeordnete Ziel der allgemeinen Präventionsarbeit ist es daher, junge Menschen zu aktiven demokratischen Bürgern zu befähigen.

Es gibt ein hohes Maß an Überschneidungen zwischen der allgemeinen Prävention und den Zielen und Aktivitäten der normalen beruflichen Aktivitäten in der Bildungs- und Jugendarbeit. Allgemeine präventive Aktivitäten können bestehen aus:

  • Erhöhung der Widerstandsfähigkeit
  • Schulung sozialer Zusammenarbeit und Kommunikation
  • Die Stärkung von kritischem Denken und demokratischem Verständnis und Werten

Die spezifische Ebene der Prävention wird auch als sekundäre oder indizierte oder spezifische Prävention bezeichnet. Auf dieser Ebene ist die Zielgruppe klar definiert und die präventiven Aktivitäten müssen auf die Zielgruppe abgestimmt sein. Die Zielgruppe kann sein:

  • Personen, die in Risikozonen mit vielen Fällen von Radikalisierung leben (z. B. Molenbeek in Belgien).
  • Personen, die Interesse an radikalen Bewegungen und Gruppen zeigen oder bereits Kontakt zu ihnen haben
  • Personen die ein beunruhigendes Verhalten zeigen

Mögliche Aktivitäten:

  • Koproduktion eines Präventionsprogramms mit einer lokalen Gemeinschaft aus einem Gebiet mit Fällen von Radikalisierung, um junge Menschen aus diesem Gebiet zu befähigen, Sprecher gegenüber lokalen Behörden und Fachleuten, die im Bereich der Prävention tätig sind, zu werden.

Ein Beispiel auf dieser Ebene ist das Projekt COCORA (2017): „Die COCORA-Handbuchsammlung“.

Die gezielte Ebene der Prävention wird auch als Tertiärprävention bezeichnet. Die Zielgruppe sind Personen, die in gewalttätigen Extremismus verwickelt sind. Ziel ist es, die Eskalation der Radikalisierung (Deradikalisierung) zu vermindern und Ausstiegsprogramme für Ausstiegswillige oder solche, bei denen angenommen wird, dass sie für Unterstützung beim Ausstieg offen sind, anzubieten.

Mögliche Aktivitäten:

  • Unterstützung bei der Veränderung von Verhaltensmustern und der Verbindung zwischen Denken und Verhalten durch kognitive Dialogmethoden.

KEINE EINDEUTIGEN ZEICHEN ODER PROFILE

Wie wir gesehen haben, gibt es viele Hintergründe und sehr unterschiedliche Faktoren, die an Radikalisierungsprozessen bei Personen und Gruppen beteiligt sind. Es ist nicht möglich, eine einfache Ursache und eindimensionale Erklärung für die Radikalisierung von Personen zu finden. Wie oben gezeigt wurde, wurde in der Forschungsarbeit versucht, spezifische Profile von Personen zu erstellen, die sich radikalisieren, oder Listen von Anzeichen zu erstellen, nach denen Fachleute suchen müssen, um gefährdete Personen oder solche, die sich in einem Radikalisierungsprozess befinden, zu erkennen (Borum, R.,2004).

Ebenso wurden Modelle von erkennbaren Phasen vorgestellt, die Personen in Radikalisierungsprozessen durchlaufen werden (Silber, M. D. & A. Bhatt, 2007). Diese Versuche, Listen und Modelle zu erstellen, wurden jedoch aus mehreren Gründen kritisiert, da die Gefahr besteht, die vielfältigen Prozesse zwischen Individuen und Gruppen in unterschiedlichen Kontexten zu vereinfachen. Es besteht die Gefahr, zu allgemeine Schlussfolgerungen auf einer zu schmalen Beweisgrundlage zu ziehen, die aus wenigen und ausgewählten Fällen von Personen, die Terroranschläge begangen haben, abgeleitet werden, sowie die Gefahr, eine kontraproduktive Diskriminierung und Stigmatisierung aufgrund stereotyper Profile zu verursachen, die auf bestimmten Lebensstilen, ethnischen Hintergründen und Religionen beruhen und zu einem Verdacht auf eine große Anzahl von Personen führen (Velthuis, T. & Staun, J., 2009).

Abschließend ist es nicht möglich, eine eindeutige Liste von Anzeichen zu liefern, die für Fachleute als Kontrollinstrument verwendet werden können. Eine große Anzahl von Forschern und politischen Entscheidungsträgern weist jedoch darauf hin, dass Fachleute in Schulen eine wichtige Rolle bei der Vorbeugung und Prävention von Radikalisierung und Extremismus spielen (Rambøll, 2016; Asterisk 2016; Soei, A., 2018).

DIE ROLLE DER SCHULE BEI DER FRÜHZEITIGEN UND ALLGEMEINEN PRÄVENTION VON RADIKALISIERUNG

Laut Forscher*innen und politischen Entscheidungsträgern auf internationaler Ebene muss die Herausforderung, Extremismus und Radikalisierung unter Jugendlichen zu verhindern, durch die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in ihre Gesellschaften und Gemeinschaften angegangen werden, indem ihre Möglichkeiten und ihr Wunsch nach Teilnahme an der Erneuerung der Demokratie berücksichtigt werden. Die Schule ist eine prägende Institution und spielt eine wichtige Rolle bei der kontinuierlichen Gestaltung einer lebendigen und engagierten demokratischen Gesellschaft. Entscheidend für diese Entwicklung ist, dass es den Schulen gelingt, den Rahmen für das Gefühl der Inklusion und Zugehörigkeit der Schüler*innen zu schaffen, für ihr Vertrauen, Teil der Klassengemeinschaft und der Gesellschaft im weiteren Sinne mit Rechten und Möglichkeiten zur Partizipation zu sein, und für die Entwicklung eines kritischen und hinterfragenden Bewusstseins. So ist es ein Anliegen der Schule, wenn es den Schüler*innen an Vertrauen in die Klasse und die umgebende Gesellschaft mangelt, wenn sie Diskriminierung und Stigmatisierung erfahren, oder wenn sie negative Vorurteile gegenüber Personengruppen äußern und vielleicht eine Legitimation von Gewalt gegenüber Teilen der Bevölkerung zeigen. Dies sind Anzeichen von Angst, für die die Schule eine Verantwortung hat, aber auch eine Möglichkeit, auf sie einzugehen.

Die Frage ist dann, wie Fachleute im Schulkontext mit diesen wichtigen und herausfordernden Themen umgehen können.

Eine Metastudie von 34 Untersuchungen zu Interventionen im Schulkontext, die auf die Prävention von Radikalisierung abzielen, weist auf fünf entscheidende Aspekte hin, die eine positive Wirkung erzielen können, die zur Prävention von Radikalisierung führt (Rambøll, 2016).

Diese Aspekte beinhalten:

  • Der Aufbau vertrauensvoller Beziehungen zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen und zwischen den Schüler*innen untereinander.
  • Raum für Dialog, Reflexion und kritisches Denken im Klassen- und Schulkontext.
  • Eine Schulumgebung, die zu Empathie, Verständnis und Toleranz gegenüber einander und gegenüber anderen Standpunkten als den eigenen, beiträgt. Dass unterschiedliche Perspektiven sichtbar gemacht werden, und dass die Schüler*innen einer Vielzahl von Standpunkten und Lebensformen ausgesetzt sind und die Fähigkeit erlangen, die Dinge aus der Perspektive des anderen zu sehen, und ihre Meinung ohne Vorurteile ausdrücken können.
  • Dass die Schüler*innen Kenntnisse und Kompetenzen über Menschenrechte, Verständnis von Demokratie, Konflikt und Konfliktbewältigung, das Einlassen auf politische Meinungsverschiedenheiten und einen allgemeinen Einblick in Möglichkeiten und Rechte als teilnehmendes Mitglied der Gesellschaft erhalten.
  • Dass jede*r Schüler*in ein Gefühl der Zugehörigkeit, des Respekts und der Zugehörigkeit in der Klasse und der Schule, sowie in Lehr- und Lernsituationen erlebt. Dass die Lehrumgebung dabei die Integration unterstützt.

DER BEDARF AM AUFBAU UND WEITERBILDUNG VON FACHKRÄFTEN

Die Metastudie bestätigt, was andere Untersuchungen vermuten lassen, dass Kapazitätsbildung und CPD von Lehrer*innen und anderem Schulpersonal Auswirkungen auf die Prävention von Radikalisierung haben können (Bonell, Joe, Phil Copestake u.a., 2011). Der Aufbau von Kapazitäten zielt in erster Linie auf die Prävention von Radikalisierung ab, wenn sie darauf ausgerichtet ist, die Fähigkeit der Lehrkräfte zu verbessern, um reflektierende Debatten und den Dialog im Klassenzimmer so zu unterstützen und zu erleichtern, dass alle Schüler*innen Raum für die Äußerung ihrer Standpunkte erhalten, in einer Umgebung, in der Uneinigkeit und Pluralismus als konstruktive und grundlegende Bedingung in einer Gemeinschaft angesehen werden (Rambøll, op.cit. Laird Iversen, L., 2014). Die Lehrkraft muss einen Kontext ermöglichen, in dem es als fruchtbar und berechtigt angesehen wird, über Normen und Ideen sowie über Ideale und Lebensformen nachzudenken, die sonst als selbstverständlich angesehen werden. Die Lehrkraft muss darauf hinarbeiten, eine konstruktive „Gemeinschaft der Uneinigkeit“ im Unterricht zu schaffen, mit Trennungen und Polarisierungen umzugehen und einen sicheren Raum zu schaffen, in dem es als konstruktiv angesehen wird, unsere alltäglichen Vorurteile zu hinterfragen, um zu versuchen, hinter Kategorien und Stereotypen zu kommen und Vertrauen und Zugehörigkeit im Klassenzimmer sowie in einer größeren, von Pluralismus geprägten Gemeinschaft aufzubauen.

Dieser Ansatz und diese Denkweise werden unterstützt durch ein Demokratieverständnis, das im Wesentlichen plural und konflikthaft ist, und durch ein demokratisches Zusammenspiel, das durch Uneinigkeit, ständiges Ringen um Ideen und Kompromisse gekennzeichnet ist, im Gegensatz zum Ziel der Konsensfindung (Mouffe, Chantal, 2004). Eine auf Gleichheit und stabilem Konsens basierende Einheit wäre ein Widerspruch in einer Demokratie und ein Zeichen einer demokratischen Krise. Dementsprechend wird demokratisches bürgerschaftliches Engagement nicht als etwas angesehen, bei dem man erst bestimmte Verhaltensregeln lernen oder bestimmte Kompetenzen beherrschen muss, bevor man als demokratischer Bürger Zugang und Teilhabe erhält (Biesta, Gerd, 2013). Dies würde der Idee von Demokratie und Gleichheit als Mensch und Bürger entgegenwirken. Man ist von Anfang an als Mitglied einbezogen, und Demokratie muss von jungen und neuen Bürgern ebenso wie von anderen gestaltet und umgestaltet werden, indem sich die Menschen mit ihren Visionen und Wegen der demokratischen Beteiligung beschäftigen. Die Rolle der Schulen in diesem Prozess ist es, den fruchtbaren Rahmen für dieses demokratisch-kritische gesellschaftliche Engagement und die Zugehörigkeit der Jugendlichen zu schaffen.

DIE SCHULEN ALS MITGESTALTER VON MARGINALITÄT, EXTREMISMUS UND RADIKALISIERUNG

Zwar spielt die Schule eine wichtige Rolle bei der Prävention von Extremismus, einige Forscher weisen jedoch darauf hin, dass Schulen und Lehrer*innen tatsächlich an der Entstehung von Radikalisierung und oppositionellen Positionen unter den Schüler*innen mitwirken können (Gilliam, L., 2010).

Die Schule basiert auf bestimmten kulturellen Regeln, Sprechweisen, Literatur und oft einer dominanten religiösen Identität, die mit der bürgerlichen Bevölkerungsmehrheit verbunden ist (Bourdieau & Passeron, 1990).

Das Wissen, das in der Schule geschätzt und als Standard definiert wird, an dem die Leistung gemessen wird, ist mit diesem Bereich der Bevölkerung verbunden.

Kinder, die ethnischen Minderheiten und/oder anderen sozioökonomischen Hintergründen als den vorherrschenden angehören, treffen in der Schule auf diese kulturelle Vormachtstellung und erleben Ausgrenzung und kulturelle Marginalisierung. Die Kinder spüren, dass die herrschende Kultur so dominant ist, dass sie sich deutlich anders fühlen, wenn sie nicht den Erwartungen des „normalen“ Kindes entsprechen. Das Gefühl, anders zu sein, nicht anerkannt zu werden, sich mit einer fragwürdigen Religion und Ethnizität zu identifizieren und den spezifischen Normen und Kriterien nicht gerecht zu werden, kann zu einer Gegenidentifikation führen. Manchmal kann es zu einer schulfeindlichen Kultur kommen, und manchmal zur Suche nach anderen Gemeinschaften, um Anerkennung zu erlangen. Es kann zu einem Teufelskreis der Entfremdung von der Schule führen, in dem man das Gefühl hat, nicht erfolgreich sein zu können und sich nicht beteiligen zu können, zu oppositionellem Verhalten, zu weiterer Ausgrenzung, etc.

Diese Untersuchung weist auf die Gefahr hin, dass die Schule Teil einer Konstruktion von Marginalität ist, die zur Entstehung einer Gegenkultur führen kann, in der Jugendliche eine Identität aufbauen, die sich von dem unterscheidet, was sie in der Schule nicht haben können. Im Gegensatz dazu können die Schule und die Lehrer*innen, wenn sie sich dieser Mechanismen und ihrer wichtigen Rolle als Mikrogesellschaft bewusst sind und die Fähigkeiten und die Motivation gewinnen, auf die Integration, die Zugehörigkeit und das Vertrauen als teilnehmende BürgerInnen unter den Kindern und Jugendlichen über die Vielfalt hinweg hinzuarbeiten, einen enormen Effekt haben, einschließlich der Antizipation und Prävention von Radikalisierung und Extremismus.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR UND INFORMATIONEN

Rahim, E. (2010), Marginalized through the „Looking Glass Self“: the development of Stereotypes and Labeling, Journal of International Academic Research, Vol. 10, N.1

Stephens, W., Sieckelinck, S., Boutellier, H., (2019), Preventing Violent Extremist: A Review of the Literature, Studie in Conflict & Terrorism, DOI

Center for the prevention of radicalization leading to violence: https://info-radical.org/en/

Danish Government (2016): “Preventing and countering extremism and radicalization . National Action Plan”.

Borum, R (2011): “Radicalization into violent extremism II”. Journal of Strategic Security no. 4

Moghaddam, Fathali M. (2005): “The staircase to terrorism. A psychological explanation”. In American Psychologist.

The European Commission, Expert Group on Violent Radicalisation (2008): “Radicalisation processes. Leading to Acts of Terrorism”.

Ranstorp, M. (2016): “The Root Causes of Violent Extremism”. RAN Issue Paper 04/01.

Mhtconsult (2010, only Danish version): “Active citizenship through targeted inclusion. Mapping and analysis of me-thodical development and competence needs in encounters with radicalized youth among frontline workers in the City of Copenhagen”.

Mhtconsult (2012): “Deradicalisation – targeted intervention. Report on Danish pilot experience with deradicalisation and prevention of extremism”.

Hemmingsen, A. (2015): “The Danish Approach to Countering and Preventing Extremism and Radicalisation”.

One example on this level is the COCORA project (2017): “The COCORA Handbook Collection”.

Borum, R. (2004): “Psychology of Terrorism, Psychology of Terrorism Initiative”. Sagemann, M. (2004): ”Understand-ing terror networks”.

Rambøll (2016, only Danish version): ”Literature Study on prevention of radicalisation in schools”.

Silber, M. D. & A. Bhatt (2007): “Radicalisation in the West: The Homegrown Threat”. PET, Center for Terror Analysis : “Radikalisation and terror”.

Velthuis, T. & Staun, J. (2009): “Islamist radicalization: A root cause model”.

Rambøll (2016), Asterisk (2016), Soei, A. (2018a, only Danish version): ”Omar and the others. Angry young men and citizenship”.

Soei, Aydin (2018b, only Danish version): ”The school is the most important guard against racicalisation”.

Asterisk (2016, only Danish version): ”Pedagogics can prevent radicalisation”. R

AN Policy Paper (2018): “Transforming Schools into Labs for Democracy. A Companion to Preventing Violent Radicalization through Education”.

Bonell, Joe, Phil Copestake a.o.(2011): “Teaching approaches that help to build resilience to extremism among young people”.

Rasmussen, L. Kofoed (2019, only Danish Version): ”The role of the school in the prevention of radicalisation”.

Rasmussen, L. Kofoed, Neergaard Hansen, Dalum Christoffersen, Jensen, U. Højmark (2018, only Danish version): ”Democratic communities. Prevention of polarization and exclusion in school”.

Certa (2015, only Danish version): ”Resilience against radicalisation and violent extremism. An explorative study of resilience within selected communities”.

Laird Iversen, L. (2014, only Danish and Norwegian version).” Disagreement communities. A look at democratic interaction”.

Mouffe, Chantal (2004): “Pluralism, dissensus and democratic citizenship”.

iesta, Gerd (2013): “Learning Democracy in School and Society.

Gilliam, L. (2010, only Danish version): ”The unintentional integration: the school’s contribution to migrant childrens Muslim identity and community”.

Lagermann, L. Colding (2019, only Danish version) ”Colour-blind expectations”.

Bourdieau & Passeron (1990): “Reproduction in Education, Society and Culture”.

Contact Us

Do you want to sign up to receive our newsletter or write us to have more information?

Coordinator – Centro per lo Sviluppo Creativo Danilo Dolci – Italy

antonella.alessi@danilodolci.org