Übung 5: Fallbeispiele – Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Positionen im Klassenzimmer

Übung 5: Fallbeispiele – Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Positionen im Klassenzimmer

Im Folgenden werden vier Fallbeispiele für interkulturelle Konflikte in der Schule vorgestellt (Quelle: Ufuq.de – „The kids are alright“, leicht modifiziert). Bitte überlegen Sie für jedes Beispiel, wie Sie mit der jeweiligen Situation umgehen würden. Im Anschluss an ihre eigene Reflexion lesen Sie bitte die Hintergrundinformationen und pädagogischen Optionen bzw. Handlungsempfehlungen und vergleichen Sie sie mit Ihren eigenen Antworten.

Fallbeispiel 1: Neu mit Kopftuch

Nach den Sommerferien kommt ein muslimisches Mädchen zur Schule und trägt plötzlich ein Kopftuch, das ihr Haar bedeckt. Einige der anderen Mädchen kommentieren diese Tatsache negativ.

Hintergrund: 
Ob jemand religiös ist, lässt sich nicht am Kopftuch ablesen. Trotzdem ist es in der öffentlichen Auseinandersetzung für viele ein Symbol „des Islams“: Als solches möchten es die einen verteidigen. Für andere ist es Ausdruck von Unterdrückung. Dabei sind im Alltag die Motive und die Formen, das Tuch zu tragen, sehr vielfältig. So trägt die Tochter Kopftuch, ihre Schwester oder die Mutter aber nicht. Gleich ob freiwillig oder aufgezwungen: Der erste Schultag mit Kopftuch – zum Beispiel nach den Sommerferien – ist für alle eine große Hürde. Und mit Salafismus hat es sehr selten zu tun.

Pädagogische Optionen

  • Jugendliche mögen es meist nicht, auf Veränderung angesprochen zu werden, die Körper oder Persönlichkeit betreffen. Wenn Sie Mädchen ansprechen, weil sie „neu“ mit Kopftuch sind, dann sollte das interessiert und nicht problemorientiert sein.
  • Geben Sie sich als Ansprechpartner*in zu erkennen, wenn es zur Diskriminierung kommt.
  • Suchen Sie nach pragmatischen Lösungen, wenn es zu Problemen kommt, etwa im Sportunterricht.
  • Wenn in der Schule Mädchen ohne Kopftuch unter Druck geraten, intervenieren Sie – aber nicht unter Bezug auf religiöse Fragen, sondern weil einige Jugendliche andere unter Druck setzen.
  • Eine These: Je weniger an Mädchen und Familien „gezerrt“ wird, desto freier sind sie in ihren Entscheidungen.
Fallbeispiel 2: Verweigern des Handschlags

Bei einer Feierlichkeit anlässlich des Abiturs verweigert ein muslimischer Jugendlicher den Handschlag als eine Lehrerin ihm gratulieren will.

Hintergrund: 
Die allermeisten Muslim*innen weltweit geben anderen Menschen die Hand. Manche vermeiden aber den Körperkontakt mit fremden Angehörigen des anderen Geschlechts – aus Respekt, wie sie sagen. Wenn Jugendliche nicht die Hand geben wollen, spielen oft jugendtypische Suchprozesse eine Rolle: Wer bin ich? Welche Rolle spielt Religion für mich? Was verlangen sie von mir? Meist steht hinter einer Handschlagsverweigerung nicht der Wunsch nach Abgrenzung/Segregation. Nicht die Hand zu geben, wird vielmehr von Jugendlichen zum Symbol vermeintlicher „islamischer“Besonderheit aufgeladen, deren Anerkennung sie einfordern. Das wird provokativ (und soll es auch), ist aber meist ein Experiment. 

Pädagogische Optionen:

  • Bestärken Sie nicht „Wir-und Die-Diskurse“, indem Sie über „unsere“ Werte und Gebräuche sprechen.
  • Fragen Sie die Jugendlichen, was ihnen an ihrer Art der Begrüßung wichtig ist.
  • Greifen Sie unterschiedliche Formen der Begrüßung auf: Worum geht es dabei?
  • Spüren Sie den Anliegen der Jugendlichen nach, nehmen Sie diese ernst, gehen Sie aber davon aus, dass es sich um Suchprozesse handelt.
  • Im Fall ideologischer Verhärtung suchen Sie sich Unterstützung.
Fallbeispiel 3: Internationale Konflikte - Jugendliche ergreifen einseitig Partei in Kriegen und Konflikten

Im Klassenzimmer findet eine politische Diskussion statt und einige der Schüler*innen beziehen als es um einen gewaltsamen Konflikt geht, einseitig Partei.

Hintergrund:
Internationale Konflikte beschäftigen Jugendliche und führen mitunter zu schwierigen Situationen – z.B. wenn Jugendliche vehement Partei ergreifen. Das kann mit persönlicher/familiärer Betroffenheit zu tun haben; mit dem Gespür für politische widersprüchliche Interessenkonstellationen (bspw. Ist Saudi-Arabien eine islamistische Diktatur und trotzdem Verbündeter „des Westens“); oder allgemein mit dem Protest gegen Ungerechtigkeit bzw. dem Mitgefühl für Opfer von Krieg und Gewalt. Auch eigene Diskriminierungserfahrungen können dazu beitragen, dass sich Jugendliche mit anderen „Betroffenen“ verbunden fühlen – zum Beispiel als Muslim_innen. Internationale Konflikte bieten dann einen Resonanzboden zur Bestätigung eigener Wahrnehmungen. Das können auch Salafisten nutzen, wenn sie Konflikte in ihrem Sinne (Muslim_innen als Opfer) darstellen.

Pädagogische Optionen:

  • Greifen Sie regelmäßig aktuelle Ereignisse auf („Aktuelle Stunde“) und geben Sie Jugendlichen Raum für ihre Gefühle und Gedanken.
  • Würdigen Sie Empathie/Engagement/Kritik/Protest der Jugendlichen!
  • Die Differenzierung kann in einem zweiten Schritt folgen: Worum geht’s in dem Konflikt? Vergleichen Sie Konflikte.
  • Üben Sie Perspektivenwechsel: Wie sehen es die Akteure/Kriegsparteien?
  • Sprechen Sie über Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit: Wie wollen wir leben?
  • Intervenieren Sie erst, wenn Protest und Kritik in abwertende Ideologien und Feindbilder kippen.
  • Überlegen Sie, welche Handlungsoptionen für Jugendliche im Umgang mit diesen Konflikten bestehen (Foren, Leserbriefe, Spende …).
Fallbeispiel 4: “Pierre Vogel? Find ich cool… “

 Ein Jugendlicher bezieht sich positiv auf den Salafismus bzw. islamistische Prediger.

Hintergrund:
Jugendliche befinden sich in Suchprozessen. Dabei kann Religion zu einem Identitätsbaustein werden –  gerade wenn sie „ihre“ Religion und ihre Zugehörigkeit infrage gestellt sehen. Hier können auch salafistische Angebote ansetzen, wie z.B.: eine Gemeinschaft, in der sie sich zugehörig, anerkannt, stark und überlegen fühlen können; religiöses „Wissen“ und Orientierung, Möglichkeiten zur Selbstinszenierung (Aufmerksamkeit); und Positionierungen gegen tatsächliche und unvermeintliche Ungerechtigkeiten. Damit kann der Salafismus attraktiv für alle (auch nicht-muslimische Jugendliche) sein. Er markiert ein gesellschaftliches Vakuum: Denn wenn die Bedürfnisse und Interessen vieler Jugendlichen in der Gesellschaft nicht genügend bedient werden, kommen eben andere und geben ihre Antworten. Dabei sind Positionen von Pierre Vogel und andren meinst nicht direkt als „extremistisch“ oder antipluralistisch erkennbar. Wenn sich Jugendliche darauf beziehen, ist das also nicht unbedingt Ausdruck ihrer Nähe zum Salafismus.

Pädagogische Optionen:

  • Gehen Sie mit Bezügen auf salafistische Prediger (o.ä.) möglichst unaufgeregt um. Betrachten Sie Provokationen zunächst als Gesprächsangebote.
  • Stellen Sie das „Problematische“ der Positionen in den Vordergrund (z.B. die Abwertung). Fragen Sie die Gruppe nach anderen Formen der Abwertung.
  • Sprechen Sie über Religion und unterschiedliche Formen von Religiosität.
  • Geben Sie den Jugendlichen Raum: Eigene Gedanken schützen vor simplen Weltbildern.
  • Erwecken Sie nicht den Eindruck, „den Islam“ infrage stellen zu wollen. Dann können Sie darauf vertrauen, dass die meisten „Ihrer“ Jugendlichen den Salafismus ablehnen und zum Ausdruck bringen, wie peinlich sie die Prediger finden.
  • Achten Sie immer auf Veränderungen bei Jugendlichen. Vertrauen Sie dabei auf Ihre Erfahrungen und Ihr pädagogisches „Bauchgefühl“.

Bei Hinweisen auf Radikalisierung: Sprechen Sie im Kollegium, lassen Sie sich beraten.

Nachdem Sie die vier oben aufgeführten Beispiele durchgearbeitet haben, denken Sie bitte zurück an ein Beispiel, bei dem Sie Schwierigkeiten hatten, mit unterschiedlichen kulturellen Positionen in der Schule umzugehen. Dann gehen Sie das „Rezept für alle Fälle“ durch (aus ufuq.de: „The kids are alright“), und überlegen Sie, wie Ihnen die aufgeführten Tipps in ähnlichen Situationen helfen können:

Ein Rezept „Für alle Fälle“ in sechs Schritten:

  • Schritt eins: Beziehen Sie schwierige Positionen und Konflikte nicht auf Kultur, Islam und Islamismus! Oder anders: Fragen Sie nicht, was „problematische“ und provozierende Positionen oder Verhaltensformen von Jugendlichen im Islam, Kultur oder Islamismus zu tun haben könnten.

  • Schritt zwei: Fragen Sie vielmehr: a) Worum geht es hier eigentlich? Was ist das „Thema hinter dem Thema?“ b) Handelt es sich vielleicht um eine Reaktion auf Erfahrungen, die der_die Jugendliche in meinem Unterricht, in unserer Schule oder in der Gesellschaft gemacht hat?

  • Schritt drei: Sagen Sie „Ja“, seinen Sie offen und interessiert für das Anliegen (auch wenn es in Form einer Provokation zum Ausdruck kommt) und geben Sie den Jugendlichen ausreichend Raum und Zeit, Ihre Ansichten und Perspektiven dazulegen und auszutauschen.

  • Schritt vier: Sagen Sie nur dann „Aber…“, d.h. intervenieren Sie erst, wenn es dabei abwertenden und anti-pluralistischen Positionen sowie zu absoluten Wahrheitsansprüchen (Merkform: aaa) kommt und diese in der Gruppe unwidersprochen bleiben.

  • Schritt fünf: Fragen Sie die Jugendlichen nach ihren Wünschen und Vorstellungen zu jeweiligen Themen („Wie wollen wir leben?“) und regen Gespräche und Diskussionen an.

  • Schritte sechs: Wenn ein Gespräch oder eine Diskussion in der Gruppe diesem Thema gelingt, haben wir unsere pädagogische Aufgabe erfüllt und können zufrieden nach Hause gehen.