Übung 4: Kulturschock – eine Methode zur Bewältigung interkultureller Konflikte von M. Cohen-Emerique

Übung 4: Kulturschock – eine Methode zur Bewältigung interkultureller Konflikte von M. Cohen-Emerique

Die pädagogischen Ansätze und Methoden von Lehrer*innen und Eltern können sich stark voneinander unterscheiden und so ggf. einen Kulturschock auslösen. Wenn Lehrer*innen mit elterlichen Praktiken konfrontiert werden, die nicht mit ihren eigenen Werten übereinstimmen, kann es zu einer Verurteilung der Eltern kommen („Diese Eltern können nicht mit ihrem Kind umgehen“) oder zu einer Durchsetzung der eigenen Norm („Hier machen wir das so; das ist die Regel“). Beide Vorgehensweisen können schädlich für das Kind sein, da so seine Identität und kulturelle Zugehörigkeit missachtet wird.

Die berufliche Kultur von Lehrer*innen stützt sich oft auf Theorien der Kindesentwicklung, die sich auf ein westliches und normatives Bildungsverständnis beziehen. Bei elterlichen Praktiken, die nicht diesen Modellen entsprechen, können Lehrer*innen einen Kulturschock erleben. Laut Margalit Cohen-Emerique ist ein Kulturschock die emotionale und intellektuelle Erfahrung im Kontakt mit dem, was uns fremd ist. Daraus resultieren Emotionen wie Unverständnis, Angst und Überraschung. Diese Kulturschocks können nicht nur unentdeckt bleiben, sondern werden auch häufig nicht richtig verarbeitet, was wiederum zu Abwehrreaktionen führen kann. Einige Beispiele in diesem Zusammenhang wären:

Ein Vater holt seinen Sohn ab und sagt: „Du musst nicht aufräumen, das ist der Job einer Frau…“ oder eine Mutter denkt, dass es völlig in Ordnung ist, wenn der Sohn statt Obst und Gemüse Chips und Süßigkeiten isst, oder Eltern haben absolut kein Problem damit, dass die vierzehnjährige Tochter bereits Schulden mit ihrem Smartphone gemacht hat.

Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind: Wie können eine Verurteilung und ein Rückzug verhindert werden? Wie kann der Raum für einen offenen Dialog bewahrt werden? Wie können Methoden entwickelt werden, die Erwartungen und Werte aller Parteien respektieren?  

Margalit Cohen-Emerique empfiehlt hier, einen Kulturschock systematisch aufzuarbeiten, damit eine offene Einstellung gewahrt werden kann. Das Verleugnen eines Kulturschocks dagegen verhindert seine Verarbeitung und schützt trotzdem nicht vor seinen Auswirkungen. Es ist notwendig, ihn zu erkennen und zu bearbeiten, um eine abwehrende und ablehnende Haltung zu vermeiden.

Bitte arbeiten Sie die von M. Cohen-Emerique vorgeschlagenen drei Schritte und das untenstehende Beispiel durch. Dann denken Sie an einen Konflikt zurück, den Sie selbst erlebt haben, der Ihre persönlichen Werte in Frage gestellt hat. Versuchen Sie, diesen Konflikt mit den drei eingeführten Schritten durchzuarbeiten.

Margalit Cohen-Emerique (1999) beschreibt drei Schritte, die helfen können, einen Kulturschock zu überwinden:

Dezentrierung

Zunächst sollte der Schock auf der emotionalen Ebene geklärt werden: Was fühle ich? Angst? Ekel? Empörung? Ablehnung? Auch der Hintergrund des Schocks sollte bekannt sein: Raum, Zeit, das gesprochene Wort, die eigene Haltung sowie die Haltung des anderen, also was genau schockierte, irritierte, störte…?

Dann ist es notwendig, den eigenen Bezugsrahmen zu erforschen, um festzustellen, welche Werte und Prinzipien durch den Schock erschüttert wurden. Die verschiedenen Komponenten des Bezugssystems müssen berücksichtigt werden: ethnische, sexuelle, soziale, berufliche, religiöse, nationale und politische Zugehörigkeit. So ist beispielsweise zu erkennen, dass der Vater, der seinem Sohn sagt, dass er nicht aufräumen soll, die Gleichstellung der Geschlechter gefährdet. Diese Gleichstellung ist jedoch für mich als Frau sehr wichtig, und ich lege großen Wert darauf. Die Einstellung des Vaters berührt meine Auffassung von Bildung sehr sensibel…

Diese Selbstreflexion trägt dazu bei, die Erfahrungsfähigkeit zu erweitern. Es hilft, Selbstdistanz zu üben, besonders im Hinblick auf die ersten Emotionen, die durch den Schock ausgelöst werden.

Eintauchen in das Bezugssystem der anderen Person

Der nächste Schritt besteht darin, den Einstellungen des*der Anderen einen Sinn zu geben, indem verschiedene kulturelle Zugehörigkeiten erforscht werden. Es geht darum, zu beobachten, welche Elemente seiner*ihrer Kultur die jeweilige Einstellung erklären können. Dies wird durch eine vertiefte Beschäftigung mit seinen*ihren Werten und seinem*ihrem Bezugssystem erreicht. In einem Gespräch mit der anderen Seite kann die jeweilige Position dargestellt werden. Haltung und Sichtweise sollen nachvollziehbar werden.

Wenn kein Dialog möglich ist, können mehrere Hypothesen aufgestellt werden, um die Haltung des*der Anderen zu erklären und so Verallgemeinerungen oder stereotype Interpretationen zu vermeiden: Das Verhalten kann durch die Herkunftskultur beeinflusst werden, oder es kann ein „Idol“ imitiert werden oder ….

Durch die Analyse des Bezugssystems wird der Haltung des*der Anderen Raum gegeben. Diese Analyse erfordert Offenheit, aber auch persönlichen Einsatz und Neugier, um in die Sichtweise des*der Anderen einzutauchen

Durch die Analyse des anderen Bezugssystems werden oft gemeinsame Identitätspunkte gefunden, die eine Grundlage für die Fortsetzung der Beziehung bilden können. Auf diese Weise können die Interaktionspartner wieder in Kontakt kommen und entdecken vielleicht, dass es bei ihrer Meinungsverschiedenheit nur darum geht, dass sie Dinge unterschiedlich wahrnehmen.

Verhandlung

Verhandeln bedeutet weder Unterwerfung noch passiven Widerstand von dem einen oder anderen. Damit gemeint ist eine wahre Begegnung, in der jede*r etwas „loslässt“, um sich dem*der Anderen zu nähern, ohne die wesentlichen Prinzipien der eigenen Identität in Frage zu stellen. Hier geht es darum, eine neue Norm, ein gemeinsames Feld oder einen „3. Raum“ zu finden, in dem jede*r seine Identität bewahrt und gleichzeitig auf den*die Andere*n zugeht.

Kulturelle Irritation - Ein Beispiel aus einer deutschen Schule

Die Lehrer*innen einer kleinen Gesamtschule in Deutschland sind wirklich wütend: Ein Schüler, der kurz vor dem Schulabschluss steht, sagt seinen Klassenkamerad*innen immer wieder, dass er nach der Schule keinen Job oder keinen Ausbildungsplatz annehmen will. Seine Eltern sind ohne Arbeit. Sie erhalten 1400 € Hartz V. Wenn er die Schule beendet hat, würden sie sogar mehr Geld vom Staat bekommen, wenn er arbeitslos gemeldet ist. Die Familie will bald für drei Monate in den Libanon gehen – um ein Haus in Beirut zu bauen! 

Das Kollegium diskutiert den Vorfall im Rahmen einer Konferenz:

Schritt 1: Erkunden Sie Ihren eigenen Bezugsrahmen: Welche Gefühle löst der Fall in mir aus? Was stört mich? Welche meiner Werte werden angegriffen oder in Frage gestellt?

Die Lehrer*innen nutzen die Gelegenheit, ihre Empörung und ihren Ärger auszudrücken. Es entsteht eine lange Liste von Punkten, die sie stören. Dann die Wertvorstellungen: Die Lehrer*innen nennen Werte wie „Ehrlichkeit“, „Gerechtigkeit“, „Dankbarkeit“, „Anstand“, „Loyalität zum Staat“, „Gesetzestreue“, „ohne Fleiß kein Preis“ – und beginnen zu diskutieren. Manchmal nütze einem Ehrlichkeit nichts, Gerechtigkeit in diesem Land sei so eine Sache, einige Leute sahnen ganz offiziell ab, ohne fleißig zu sein, die Solidargemeinschaft funktioniere auch aus anderen Gründen nicht mehr…

Schritt 2: Erkunden Sie den Bezugsrahmen des anderen und bilden Sie Hypothesen: Was weiß ich über die Situation und die Werte der Familie? Was vermute ich? Wie vermute ich, dass der Schüler die Situation erlebt hat? Was will ich wissen, um besser zu verstehen?

Die Lehrer*innen sammeln, was sie über die Familie wissen und stellen fest, dass ihnen weder die Migrationsgeschichte der Familie noch ihre Zukunftspläne klar sind und sie nicht wissen, welche Bedeutung ein Haus in Beirut hat. Obwohl sie sich der Wünsche der Eltern für die Zukunft ihres Sohnes sehr wohl bewusst sind (er sollte Deutsch lernen, Kontakt mit  Deutschen haben, damit er es später in der leichter haben kann….), stellen sie jetzt fest, dass diese nie mit der Familie diskutiert worden sind. Die angenommene Möglichkeit, dass die Familie Verwandte im Libanon unterstützt, relativiert den Zorn über die „Verantwortungslosigkeit“ der Familie. Vielleicht ist die Familie für den Schüler die Solidargemeinschaft, für die er sich auch verantwortlich fühlt? Der Schüler ist ein „Angeber“ in finanziellen Angelegenheiten, will er dadurch vielleicht sein Gesicht und seinen Stolz aufrechterhalten, nicht als Verlierer auftreten?

Schritt 3: Verhandeln – eine Lösung entwickeln: Was will ich mit dem Gespräch erreichen? Welche Fragen möchte ich stellen? Was möchte ich über mich selbst sagen?

Die Lehrer*innen entwickeln in Rollenspielen Möglichkeiten, die Irritation anzugehen. Dabei bemerken sie, wie sie um den „heißen Brei“ herumreden oder dass sie dazu tendieren, zu moralisieren. Weil ihnen selbst gar nicht so klar ist, was sie wollen: Wollen sie ihre persönliche Position zur nicht angemeldeten Erwerbstätigkeit kommunizieren? Wollen sie als Vertreter der Schule zeigen, dass sie Illegalität wahrnehmen und Konsequenzen androhen? Was ist der Auftrag der Schule hier und welche Rolle spielt die Schulleitung? Am Ende erarbeiten die Lehrer*innen, worauf sie sich als professionelle Pädagogen fokussieren sollten: Sie versuchen, sich auf das Wohl ihrer Schüler*innen zu konzentrieren. Sie entwickeln einen Ansatz, um mit dem Schüler und seinen Eltern ohne Verurteilung zu sprechen. Sie werden versuchen, ihre Position zu hören, aber ihnen gleichzeitig erklären, dass sie sich um den Rest der Klasse kümmern müssen, der bei der Suche nach einem Job oder einer Ausbildung nach der Schule unterstützt und gefördert werden muss.

Das Beispiel wurde auf der Grundlage eines Textes aus einem deutschen Text von Kinderwelten Projektmaterial (2007) leicht modifiziert.